Swissgrid steht Red und Antwort zum Thema Strom und Europa
Jörg Spicker, wie wird in der Schweiz hauptsächlich Strom hergestellt?
Den grössten Anteil der schweizerischen Stromerzeugung liefert die Wasserkraft mit 58 Prozent, gefolgt von der Kernkraft mit 33 Prozent. Weiter machen konventionell thermische Anlagen 4 Prozent und neue erneuerbare Energien, wie Wind- und Solarenergie, 5 Prozent des Schweizer Strommixes aus.
Unser Land ist eine Mitgründerin des Europäischen Stromnetzes («Stern von Laufenburg»). Wie kam es dazu?
Strom wurde bereits anfangs der 1950er-Jahre grenzüberschreitend geliefert. Hierzu nutzten Schweizer Stromunternehmen ihre eigene Produktion und bauten entsprechende Leitungen. Nach dem zweiten Weltkrieg stieg der Stromkonsum aber explosionsartig an. Wiederkehrende Versorgungsengpässe und Probleme in Bezug auf die Netzstabilität waren die Folge. Die Versorgungsunternehmen im Dreiländereck haben bald erkannt, dass die Zusammenlegung ihrer Netze die Versorgungssicherheit erhöht. Im April 1958 wurden deshalb die Übertragungsnetze der Schweiz, Deutschlands und Frankreichs in Laufenburg zusammengeschaltet – zunächst versuchsweise und dann dauerhaft. Der damit entstandene «Stern von Laufenburg» unterstützte eine noch nie dagewesene Netzstabilität für die Schweiz und ganz Mitteleuropa. Die Basis für einen europäischen Verbundnetzbetrieb war geschaffen.
Übrigens: Der «Stern von Laufenburg» wurde 2010 durch das Institute of Electrical and Electronic Engineers (IEEE) in New York gar als «historischer Meilenstein in der Stromgeschichte» ausgezeichnet.
Welche Rolle spielt die Schweiz heute?
Physisch ist die Schweiz sehr gut in das europäische Verbundnetz integriert. Sie ist mit 41 Grenzleitungen eng mit ihren Nachbarländern vernetzt. Als Stromdrehscheibe im Herzen Europas leistete sie nicht nur historisch betrachtet einen wichtigen Beitrag zur Sicherheit der europäischen Stromversorgung, sondern sie tut das noch heute. Denn über die Alpen verbindet das Schweizer Stromnetz als zentraler Teil dieses europäischen Verbundnetzes den Norden mit dem Süden des Kontinents. Die Alpen agieren gleichzeitig als Speicher für die Region: In den Schweizer Speicherseen werden grosse Mengen an Energie gelagert, die bei Bedarf abgeführt werden können. Ausserdem übernimmt Swissgrid im Auftrag von ENTSO-E, dem Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber, als Koordinations-
zentrum für Südeuropa eine zentrale Rolle, um das europäische Netz im Gleichgewicht zu halten.
Trotz allem nimmt die Bedeutung der Schweiz fĂĽr Europa laufend ab. Der italienische Ăśbertragungsnetzbetreiber Terna verfĂĽgt beispielsweise bereits ĂĽber zahlreiche Kabelverbindungen mit Frankreich, Ă–sterreich, Slowenien, Montenegro und Griechenland. Weitere sind geplant. Ebenfalls will Italien neue Seekabel nach Tunesien sowie zwischen Nord- und SĂĽditalien legen.
Inwieweit sind wir angewiesen auf Importe aus der EU? Wir könnten doch all unseren Strom einfach selbst herstellen.
Das ist leider nicht ganz so einfach. Im Sommer wird in der Schweiz grundsätzlich mehr Strom produziert als verbraucht. Den Überschuss exportieren wir. Im Winterhalbjahr hingegen ist die Schweiz auf Stromimporte angewiesen, weil die inländische Produktion den Bedarf dann nicht decken kann. Grund dafür ist unser Strommix. Zur Erinnerung: 58 Prozent der Schweizer Stromerzeugung stammt aus Wasserkraft. Hier ergeben sich Produktionsschwankungen durch den jahreszeitlich unterschiedlichen Wasserstand. Private haben zwar die Möglichkeit, mittels Photovoltaikanlagen selbst Strom zu produzieren. Der Anteil des Solarstroms am schweizerischen Strommix ist aber gering. Ausserdem ist auch die Photovoltaik von den Jahres- und Tageszeiten abhängig.
Nach dem Abbruch der Verhandlungen zum Institutionellen Rahmenabkommen scheint ein Stromabkommen mit der EU weit von einem Abschluss entfernt. Was bedeutet das konkret fĂĽr unser Land und fĂĽr Swissgrid?
Konkret bedeutet es: zunehmender Ausschluss, zunehmender Systemstress und abnehmende Importfähigkeit.
Die EU-Regeln für den Netz- und Marktbetrieb entfernen sich immer weiter von den entsprechenden Schweizer Regularien. Ohne Stromabkommen und ohne entsprechende Passagen in den laufenden Schweizer Gesetzesvorhaben gelten formell unterschiedliche Spielregeln beidseits der Grenzen. Die Stabilität des europäischen Verbundnetzes basiert aber gerade auf dem Prinzip, dass sich alle Teilnehmer an dieselben Spielregeln halten.
Swissgrid ist ohne Stromabkommen von der Teilnahme an der EU-Marktkopplung für die wesentlichen Zeitbereiche des Stromhandels (Day-Ahead und Intraday) ausgeschlossen. Hierdurch entstehen ungeplante Lastflüsse durch die Schweiz, die zunehmend die Netzstabilität gefährden. Swissgrid muss Strom (vornehmlich aus Wasserkraft) zur Stabilisierung einsetzen. Gleichzeitig sind einheimische Produzenten insbesondere aus Kurzfrist- und Balancing-Märkten ausgeschlossen, auf denen sie aufgrund der hohen Flexibilität ihrer Anlagen eigentlich einen technologischen Wettbewerbsvorteil hätten. Die EU will uns nun auch aus den derzeit entwickelten Plattformen für Regelenergie ausschliessen. Diese Energie wird für die Frequenzhaltung benötigt. Der versuchte Ausschluss führt daher zu erheblichen Herausforderungen für die Netzstabilität.
Was bedeutet das für die nähere Zukunft?
Wir gehen davon aus, dass die Intensität der Herausforderungen für die Netzsicherheit bis 2025 stark zunehmen wird. Denn spätestens bis dahin müssen die EU-Mitgliedstaaten 70 Prozent der grenzüberschreitenden Stromkapazitäten für den Handel innerhalb der EU bereitstellen. Drittstaaten – wie es die Schweiz momentan ist – werden bei dieser Regel nicht berücksichtigt. Aufgrund des hohen Vermaschungsgrades des Schweizer Übertragungsnetzes dürfte diese weitere Optimierung der flussbasierten Marktkopplung in der EU sowie deren geographische Erweiterung auf Osteuropa in den kommenden Jahren also eine grosse Herausforderung darstellen. Mit der vollständigen Umsetzung der 70 Prozent-Regel ist eine Zunahme des Handels innerhalb der EU zu erwarten. Solange die Schweiz nicht adäquat in die Netzkapazitätsberechnungsprozesse einbezogen wird, ist eine massive Zunahme ungeplanter Stromflüsse durch die Schweiz zu erwarten. Dies könnte ebenfalls negative Auswirkungen auf die Importfähigkeit im Winterhalbjahr und auf die Netzstabilität haben. Ausserdem wird sich der Abbau von gesicherter Erzeugungs-
kapazität im europäischen Umfeld insgesamt negativ auf die Importmöglichkeiten der Schweiz auswirken.
Swissgrid ist daher auf eine politische Lösung angewiesen. Denn nur eine solche schafft einen stabilen Rahmen für eine langfristig gesicherte Zusammenarbeit mit der EU und damit für eine hohe Versorgungssicherheit in der Schweiz.
Wo harzt es denn aktuell in der Zusammenarbeit mit Europa?
Die EU macht seit 2012 ein Rahmenabkommen zur zwingenden Voraussetzung für den Abschluss eines Stromabkommens. Das gilt formell für alle Marktzugangsabkommen. Ein Stromabkommen scheint daher im Moment unrealistisch, aber es wäre nach wie vor die effizienteste und wirksamste Lösung für eine zuverlässige Stromversorgung der Schweiz.
Swissgrid setzt ihr Engagement fort, um weiterhin auf technischer Ebene mit den europäischen Partnern zusammenarbeiten zu können. Privatrechtliche Verträge können jedoch nicht die ganze Problematik des fehlenden Stromabkommens adressieren. Da es aus Sicht der EU auf privatrechtlicher Basis keine gleich langen Spiesse gibt. Zu berücksichtigen ist ebenfalls, dass auch privatrechtliche Verträge für die EU-Partner immer konform mit der EU-Regulierung sein müssen und früher oder später die Genehmigung nationaler Regulierungsbehörden und allenfalls der EU-Kommission benötigen. Deren Zustimmung ist erstens langwierig und kann zweitens nicht garantiert werden. Für diese Verträge besteht auch keine gesetzliche Grundlage im EU-Recht.
Gibt es bereits Übergangslösungen?
Wir sehen eine mögliche Übergangslösung in einem rein technischen zwischenstaatlichen Abkommen, bei dem wirtschaftliche Aspekte bewusst ausgeklammert würden. Es würde daher nur die für die Netzsicherheit relevanten Fragestellungen regeln, namentlich den Einbezug der Schweiz in die wichtigen Methoden zur Koordination und Aufrechterhaltung der Netzsicherheit – so lange, bis allenfalls eine alternative Lösung für einen EU-Binnenmarktzugang in Kraft ist. Nur eine politische Lösung schafft einen stabilen Rahmen für eine langfristig gesicherte Zusammenarbeit mit der EU und damit für eine hohe Versorgungssicherheit in der Schweiz.
Die Schweiz hat kürzlich eine Absichtserklärung mit sechs europäischen Ländern (Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Niederlande und Österreich) zur Stromkrisenvorsorge unterzeichnet. Das klingt nach einer guten Lösung. Kann diese Massnahme die bestehenden Probleme denn nicht lösen?
Swissgrid wertet es als positives Zeichen, dass sich die zuständigen Ministerinnen und Minister mit der Versorgungssicherheit auseinandersetzen und diesem Thema die notwendige Priorität geben. Es handelt sich aber im Moment um eine blosse Absichtserklärung, aus der noch kein gesetzlicher Spielraum für eine Einbindung der Schweiz erwächst. Die Herausforderungen bleiben also bestehen.
Worst-case: die Milch im KĂĽhlschrank wird schlecht?
Ohne Strom geht heutzutage fast nichts mehr. Gesellschaft, Kommunikation, Verkehr, Gesundheitsversorgung, Industrie und Gewerbe – es gibt praktisch keinen Bereich, der ohne elektrische Energie auskommt. Nach trockenen Sommern und niedrigen Wasserständen in den Flüssen steigt die Abhängigkeit von der Kernkraft. Fällt diese Produktion weg, müssen die Importe erhöht werden. Niedrige Wasserstände bei gleichzeitig reduzierten Importmöglichkeiten sind nicht unwahrscheinlich, sondern in vergangenen Wintern bereits zusammen aufgetreten. Jedes weitere Eintreten eines Risikofaktors führt zu zunehmendem Systemstress. Zusammen mit den EU-Entwicklungen und dem zunehmenden Ausschluss der Schweiz steigt daher die Wahrscheinlichkeit für eine Strommangellage.
Zusammenfassend, wie wichtig ist die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union im Strombereich für die Schweiz?
Um die Versorgungssicherheit der Schweiz mittel- bis langfristig zu gewährleisten, braucht es ein stabiles Netz, genügend Energie in der Schweiz und Kooperation mit den europäischen Partnern.
Das europäische Verbundnetz garantiert eine sichere Stromversorgung, denn dank internationaler Zusammenarbeit ist es möglich, Erzeugungsengpässe oder Überproduktion zu kompensieren. Die Schweizer Netzstabilität gibt es mittelfristig nur im europäischen Kontext. Die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union und ihren Netzbetreibern ist daher essenziell für die Gewährleistung der Versorgungssicherheit und der Netzsicherheit in der Schweiz.