Schweiz-EU: Wo liegt der Ausweg aus der Sackgasse?
30 Jahre nachdem die Schweiz den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum abgelehnt hatte, bot der Anlass ein reichhaltiges Programm für einen aussergewöhnlichen Abend. Jung und Alt waren zahlreich erschienen, um an einer der (zu) wenigen Veranstaltungen teilzunehmen, bei denen über Europa und die Zukunft der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU gesprochen wurde.
Abwartende Haltung nĂĽtzt weder der Schweiz noch der EU
Der Abend begann mit einem Plädoyer für konstruktive Beziehungen mit unserer Wirtschaftspartnerin, der EU. Cristina Gaggini, Leiterin der Geschäftsstelle von economiesuisse in Genf, zeigte dabei sehr konkret auf, welche Auswirkungen der Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen durch den Bundesrat vor 18 Monaten auf die Wirtschaft hat. Gemäss dem grössten Dachverband der Schweizer Unternehmen wird derzeit ein schrittweiser Verlust des erleichterten Marktzugangs zur wichtigsten Handelspartnerin erlebt. «Es ist eine Welle in Bewegung, die unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern nicht bewusst ist, die aber sehr real ist. Verschiedene Branchen spüren diese bereits. Die Medizintechnikindustrie wird beispielsweise durch die Nichtaktualisierung des Abkommens über technische Handelshemmnisse benachteiligt", erklärt Gaggini. In diesem für die Westschweiz sehr wichtigen Sektor mussten sich einige Unternehmen gar dazu entschliessen, ihre Geschäfte in einem EU-Mitgliedstaat aufzubauen. Gaggini rief daher auf, so schnell wie möglich die Verhandlungen mit der EU wieder aufzunehmen. Die Unternehmen können nicht länger warten. Sie müssen sich bereits mit anderen grossen Unsicherheitsfaktoren wie hohe Energiepreise, Versorgungsschwierigkeiten und Arbeitskräftemangel auseinandersetzen. Eine abwartende Haltung der Schweizer Politik sei weder für unser Land noch für die EU von Vorteil. Diese Worte waren ein Echo auf die Ausführungen von Staatsrätin des Kantons Waadt, Isabelle Moret. In einer äusserst engagierten Rede hob die Vorsteherin des Wirtschaftsdepartements die sehr konkreten Folgen für das Waadtländer Wirtschaftsgefüge hervor, das zahlreiche exportorientierte und innovative Start-ups aufweist. Moret erinnerte zudem an das Engagement ihres Kantons und dasjenige von anderen Kantonen bei der Suche nach Lösungen. Einige von ihnen stehen bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit mit unseren europäischen Nachbarn an vorderster Front.
Eine langsame, schleichende, aber klar ersichtliche Erosion des bilateralen Wegs
Weder Astrid Epiney, Rektorin der Universität Freiburg, noch Luciana Vaccaro, Rektorin der Fachhochschule Westschweiz, widersprachen ihren Vorrednerinnen. Die beiden Rektorinnen sprachen insbesondere die dramatische Situation an, in der sich die Schweizer Forschung derzeit befindet. Aufgrund der Nicht-Assoziierung der Schweiz am europäischen Forschungsrahmenprogramm Horizon Europe verlieren die Schweizer Universitäten und andere Hochschulen weiter an Attraktivität und im Wettbewerb um die besten Talente. Die derzeitige Blockade des europäischen Dossiers auf politischer Ebene schadet somit unserem Wissenschaftsstandort und ruiniert die jahrzehntelange Arbeit, die es unserem Land ermöglicht hat, im Bereich Forschung und Innovation an die Spitze der internationalen Rankings zu gelangen. Davon würden schliesslich auch Arbeitsplätze der Zukunft abhängen, und zwar mehrheitlich hochqualifizierte Stellen. Grégoire Ribordy, Leiter eines Genfer Start-up-Unternehmens, das im Bereich der Quantentechnologie führend ist, bestätigte diese düstere Feststellung. Sein Unternehmen musste eine neue Niederlassung in Wien (statt in Genf) eröffnen, um Zugang zum europäischen Programm Digital Europe zu erhalten. Viele zukunftsträchtige Arbeitsplätze wurden so im Ausland und nicht in der Schweiz geschaffen. Wenn das europäische Dossier nicht bald gelöst wird, könnten viele andere Unternehmen gezwungen sein, dasselbe zu tun. Philippe Cordonier, Leiter Westschweiz bei Swissmem, warnte zudem vor den Risiken, die mit der Revision der EU-Maschinenrichtlinie verbunden sind. Ohne eine Aktualisierung des Abkommens über technische Handelshemmnisse drohe den MEM-Unternehmen, die den zweitgrössten Exportsektor in die EU darstellen, in den kommenden Jahren das gleiche Schicksal wie den Medtech-Unternehmen.
Europa – zentral für die Versorgungssicherheit der Schweiz
In der Podiumsdiskussion zum Thema Strom sagte Davide Orifici, Director Public & Regulatory Affairs and Communications bei EPEX SPOT, dass die Verhandlungen unbedingt fortgesetzt werden müssten und dass es dringend notwendig sei, ein Verhandlungsmandat festzulegen. Laut Orifici ist die Schweiz mit der EU Teil der gleichen Interessengemeinschaft. Mauro Salvadori, Head of Public Affairs bei Alpiq, sagte, dass sie in Bern nicht ausreichend gehört würden und dass man derzeit davon ausgehen könne, dass die Versorgungssicherheit der Schweiz leichtfertig aufs Spiel gesetzt werde. Europa ist diesbezüglich ein zentraler Partner. Aufgrund ihrer geografischen Lage ist die Schweiz eine Drehscheibe für die Stromversorgung auf dem Kontinent. Paradoxerweise ist sie jedoch aufgrund des Fehlens eines bilateralen Abkommens mit der EU in dieser Frage vom europäischen Strommarkt ausgeschlossen. Aus diesem Grund müsse man sich doppelt anstrengen, um aus der Sackgasse der Schweizer Europapolitik herauszukommen. Maurice Dierick, Head of Market bei Swissgrid, gab einen interessanten Einblick in die Folgen der Nichtteilnahme der Schweiz am Elektrizitätsbinnenmarkt und die starke politische Dimension dieses Dossiers auf europäischer Ebene. Er verwies insbesondere auf das Paket «Clean energy for all Europeans», das die Europäische Kommission 2019 verabschieden wird.
Gefordert wird ein neues Narrativ und eine Erklärung
Im politischen Panel schliesslich zeigten die Diskussionen insbesondere die Widersprüche in der SP auf. Und zwar zwischen derjenigen Gruppe, die sich einen EU-Beitritt wünscht, und Pierre-Yves Maillard, Präsident des Gewerkschaftsbunds, der jeglichen Fortschritt im europäischen Dossier weiter zu blockieren scheint. Die Freiburger Ständerätin Isabelle Chassot von Die Mitte betonte, dass auch die Kantone in diesem Dossier eine Rolle zu spielen hätten und dass sie ihre Stimme stärker erheben müssten. Aus dem Panel, an dem Damien Cottier, Neuenburger Nationalrat und Präsident der FDP-Fraktion, Roger Nordmann, Waadtländer Nationalrat und Präsident der SP-Fraktion, François Pointet, Waadtländer Nationalrat der Grünliberalen und Isabelle Chassot teilnahmen, ging hervor, dass ein Narrativ und eine «Erklärung» zu diesem heiklen Dossier notwendig sind. Ziel ist es, allen Bürgerinnen und Bürgern des Landes die Notwendigkeit konstruktiver Beziehungen zu Europa verständlich zu machen. Dafür setzt sich die Allianz stark+vernetzt weiter ein und wird dies auch in den kommenden Monaten und Jahren tun. Denn wir brauchen Europa mehr denn je!